Predigt von Mons. Clemens anlässlich des Jubiläums der Priester
Predigt
«Die priesterliche
Fackel der Barmherzigkeit»
Feier des Jubiläums der Barmherzigkeit
der Priester und Seminaristen
aus den deutschsprachigen Ländern
Pontificio Oratorio San Paolo,
Donnerstag, 2. Juni 2016, 17.00 Uhr
Liebe Mitbrüder im priesterlichen Dienst
und Seminaristen aus den deutschsprachigen Ländern,
liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Wie sein Wahlspruch „Miserando atque elegendo“ verrät, hat Papst Franziskus eine besondere Beziehung zur Berufungsgeschichte des Matthäus (vgl. Mt 9,9) und zum entsprechenden Gemälde Caravaggios (1599/1600), das sich in der Cappella Con-tarelli der Kirche San Luigi dei Francesi in Rom befindet.[1] Papst Franziskus sagt über diesen Künstler: „Unter den Malern bewundere ich Caravaggio. Seine Bilder sprechen zu mir.“[2]
Dies hat mich bewogen, meiner heutigen Meditation ein sehr bedeutendes Werk desselben Malers zugrunde zu legen. Es handelt sich um das großformatige Gemälde (3,9 x 2,6 m) der Sieben Werke der Barmherzigkeit, das sich auch heute noch in Neapel, in der Nähe des Doms von San Genaro, im Pio Monte della Misericordia (Via dei Tribunali, 253) befindet.[3]
Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571-1610), der geniale Maler in der Zeit des Übergangs vom Manierismus zum italienischen Frühbarock, hat zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts (1606/07) gegen ein Honorar von 370 Dukaten diese leiblichen Werke für eine Laienbruderschaft in einer allegorischen und sehr unkonventionellen Weise in Hell-Dunkel-Technik wiedergegeben. Die vor allem aus jungen Adeligen bestehende Bruderschaft hatte sich seit ihrer Gründung im Jahre 1601 der Pflege aller leiblichen Werke der Barmherzigkeit verschrieben.[4]
Die erste künstlerische Intuition des Bildes dürfte darin bestehen, dass Caravaggio die Taten der Nächstenliebe fast versteckt und bei Nacht in einem typischen volkstümlichen Winkel der Spanischen Quartiere Neapels angesiedelt hat, was dem Betrachter eine gewisse Mühe bei ihrer Identifikation abverlangt.[5]
Man muss sich anstrengen, um die einzelnen Werke zu entdecken und zu identifizieren, die von ganz alltäglichen Menschen im gewöhnlichen Alltag vollbracht werden. Es handelt sich um ein sehr komplexes und zugleich mysteriöses Bild, das von einem Mann gemalt wurde, der nicht mehr auf die Barmherzigkeit hoffen konnte und dem allmählich klar geworden war, dass aufgrund seiner Verurteilung wegen Mordes (1606) sein zukünftiges Leben aus einer Flucht vor dem Tode bestehen würde. Auf den ersten Blick scheinen die einzelnen Figuren unverbunden nebeneinander gestellt worden zu sein, um die große Fläche des Bildes im Stil der Genremalerei auszufüllen.[6]
1. Die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit
Durch den vielfachen Einfall des Lichts erreicht Caravaggio den Effekt einer akzentuierten und dramatischen Bewegung bei der Ausübung der Werke der Barmherzigkeit. Je näher man an das Bild herankommt, je mehr Gestalten treten aus dem Dunkel hervor, deren Bedeutung und Aufgabe nicht sofort auszumachen ist.
Eine Frau (Pero) nährt ihren alten Vater (Cimon), der seinen Kopf durch die Gitterstäbe des Gefängnisses drückt. Hier werden im Sinne der „Caritas romana“ gleich zwei Werke erfüllt: „Hungernde speisen und Gefangene besuchen“. Cimon war zum Tode verurteilt worden und ist später begnadigt worden. An diesem Ort in Rom, an dem sich heute die Basilika San Nicola in Carcere befindet, wurde damals ein Tempel zu Ehren der Göttin „Pietas“ errichtet.[7]
Hinter der Gefängnismauer wird ein Toter - von dem man nur die Füße und das Totenhemd erkennen kann - weggetragen. Er wird begleitet von einem Totengräber und einem bärtigen Kleriker, der mit Birett und weißer Tunika bekleidet eine Fackel (Doppelkerze) in der Hand hält („Tote begraben“).[8] Auf der linken Seite erkennt man einen Edelmann (Offizier) mit einem Federhut, der (nach dem Beispiel des Hl. Martin von Tours) seinen Mantel mit einem Bettler teilt, der nur vom Rücken her zu erkennen ist („Nackte bekleiden“). Zugleich wendet sich der Edelmann einem Gelähmten zu, der sich mit gekreuzten Armen unterhalb in der linken Ecke befindet („Kranke besuchen“).
Zudem erkennt man einen hageren, rotbärtigen Mann, der einen Wanderstab in der Hand hält und mit einem Pilgerhut mit der Jakobsmuschel (und dem Pilgerkreuz) bekleidet ist (Hl. Jakobus von Compostela). Er wird von einem gut genährten Wirt in seine Herberge eingeladen („Fremde beherbergen“). Im Hintergrund befindet sich am linken Bildrand ein gebräunter Mann (Simson), der - nach der Schlacht gegen die Philister - seinen Durst aus einem Eselskinnbacken löscht („Durstige tränken“).[9]
Anspielungen und Hinweise auf Personen des Alten Testaments, der griechisch-römischen Mythologie und der Geschichte der Heiligen werden als Beispiele für die stets aktuellen Werke der Barmherzigkeit verwandt, die vom Herrn selbst beim Jüngsten Gericht aufgezählt werden (vgl. Mt 25,31-46).[10]
2. Die Zweiheit priesterlicher Barmherzigkeit: Hinweisen und Mitwirken
Bei einer sich steigernden Betrachtung des Gemäldes von Caravaggio kommt immer mehr die zentrale Botschaft des Bildes zum Vorschein: Nüchtern betrachtet sind die Werke der Barmherzigkeit ganz einfache und alltägliche Taten, die jeder in seinem Alltag vollbringen kann. Die Notwendigkeit sie auszuüben besteht immer, sie sind immer aktuell! Menschen aller sozialen Schichten und Lebensstände, Männer und Frauen, Angehörige aller Altersgruppen können und müssen barmherzig sein!
Diese Werke sind so alltäglich, dass man mitunter zwei von ihnen in einem einzigen Akt vollbringen kann. Der eine hilft hier, der andere dort in diskreter und nahezu unbeobachteter Weise. Sie sind keine außergewöhnlichen Leistungen im grellen Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, sondern es sind ganz gewöhnliche Niederschläge der Humanität, die man mit einer schöpferischen Phantasie auch spontan und improvisierend erbringen kann.
Vermutlich werden Sie sich bereits gefragt haben, was dieses Gemälde - über das allgemeine Thema der Barmherzigkeit hinaus - speziell mit dem Jubiläum der Priester in diesem Jubiläumsjahr der Barmherzigkeit zu tun hat. Den Grund habe ich bereits kurz gestreift: Nahezu in der geometrischen Mitte des Bildes befindet sich eine Fackel, die als die einzige Lichtquelle im Bild figuriert. Sie wird von einem Kleriker, einem Priester oder Diakon, hoch am ausgestreckten Arm in der Hand gehalten.[11] Dies will sagen, dass der Kleriker als der berufene Träger der Flamme der Barmherzigkeit zu gelten hat.[12] Auf den ersten Blick könnte man meinen, seine Aufgabe bestünde nur darin, Licht für den nächtlichen Transport des Verstorbenen zu seiner Begräbnisstätte zu spenden. Dies ist jedoch zu wenig!
Es ist zu wenig, weil es nicht die zentrale und hervorgehobene Position der Fackel bzw. ihres (beleuchteten) Trägers erklärt, der diese Flamme in entschiedener Weise und deutlich erkennbar in der Hand hält. Ich denke, dass damit zwei grundlegende Dienste des Klerikers hervorgehoben werden: Der Geistliche erinnert mit seinem Licht an die sehr notwendigen Werke der Barmherzigkeit und beleuchtet ihre Ausführung! Er selbst leistet seinen Beitrag bei ihrer Verwirklichung, indem er sich am demütigsten und am wenigsten beachteten Werk beteiligt, d.h. die „Toten zu begraben“. Gleichzeitig unterstreicht er - im wörtlichen Sinne erhellt er - ihre unzähligen und dringenden Notwendigkeiten!
Daher können wir in diesem außergewöhnlichen Werk, das die Geschichte der italienischen Malerei maßgeblich beeinflusst hat, eine klare Botschaft an alle geweihten Amtsträger erkennen: Wir alle sollen entschiedene und sichtbare Träger der Flamme der Barmherzigkeit sein und gleichzeitig bei ihrer Verwirklichung einen eigenen Beitrag leisten.[13] In diesem Sinn befindet sich der Kleriker auf der Grenzlinie zwischen den leiblichen und geistigen Werken, wie wir am Bild Caravaggios erkennen können. Er erinnert einerseits an die notwendige Einsicht des Verstandes und andererseits an den zu erbringenden Anteil mit der helfenden Hand.
Papst Franziskus betont immer wieder neben den leiblichen die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit, die ebenso in alltäglicher und nicht diskreter Weise ausgeübt werden können: Belehren, raten, trösten, ermutigen sowie vergeben und geduldig ertragen.[14]
Wir dürfen mit Genugtuung feststellen, dass der Kleriker im Bild Caravaggios in einer einzigen Handlung drei der insgesamt siebzehn (leiblichen und geistigen) Werke der Barmherzigkeit vollbringt: Er nimmt am Begräbnis eines Verstorbenen teil und betet für ihn. Zusätzlich belehrt er mit der erhobenen Fackel alle, sich diesen so notwendigen und dringenden Werken der Menschlichkeit nicht zu verschließen.
3. Die Mutter der Barmherzigkeit
Liebe Mitbrüder,
liebe Schwestern und Brüder!
Die Haltung der Barmherzigkeit ist keine theoretische oder abstrakte Forderung, sondern sie verwirklicht sich in konkreter und direkter Weise: Gott selbst ist in Jesus Christus in diese Welt gekommen, er ist in seiner Güte und Menschenfreundlichkeit unter uns erschienen.[15] Der Gottessohn offenbart par excellence die Barmherzigkeit Gottes (vgl. Joh 3,16-18)!
Alle Geistlichen sind aufgefordert, in der Zeit der Kirche die Menschenfreundlichkeit Gottes in besonderer Weise widerzuspiegeln. In diesem Sinne hat der Kleriker im Bilde Caravaggios seine Fackel an der Flamme der Liebe Christi entzündet, der die Barmherzigkeit Gottes unter den Menschen in einmaliger Weise verkörperte.
Über dieser komplexen und so inhaltsreichen Szene finden wir im oberen Teil des Gemäldes die Muttergottes - die „Mater Misericordiae“ - mit dem Kind, die von zwei Engeln begleitet wird.[16] Wir dürfen sie als Schutzherrin all unseres Bemühens um Barmherzigkeit verehren.
Bitten wir in dieser Eucharistiefeier, dass die „Mater Misericordiae“ unsere geistlichen und leiblichen Dienste der Barmherzigkeit führe und begleite. Und vergessen wir nicht, dass die Barmherzigkeit eine prägende Dimension unseres priesterlichen Dienstes bleiben muss, auch wenn das Jahr der Barmherzigkeit am kommenden Christkönigssonntag zu Ende gegangen ist.
„Maria, Mutter der Barmherzigkeit, bitte für uns!“
Amen.
a Bischof Dr. Josef Clemens,
Sekretär des Päpstlichen Rates für die Laien,
Vatikanstadt
[1] Vgl. Antonio Spadaro S.J., Das Interview mit Papst Franziskus, hrsg. von Andreas R. Batlogg SJ, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2013, 29.
[2] Spadaro, Interview 65.
[3] Vgl. Sybille Ebert-Schifferer, Caravaggio. Sehen-Staunen-Glauben. Der Maler und sein Werk, Verlag C. H. Beck, München ²2009, bes. 201f.; Sebastian Schütze, Caravaggio. Das vollständige Werk, Editore Taschen, Köln 2015, bes. 186-192; Claudio Strinati, Hrsg., Caravaggio. Catalogo della mostra nelle Scuderie del Quirinale, Roma, 20 febbraio - 13 giugno 2010, Verlag Skira, Milano 2010; Costanza Caraffa, «Ex purgatori poenis ad aeteram salutem per Dei misericordiam». Le sette opere di misericordia di Caravaggio riconsiderate nel contesto napoletano, in: Sybille Ebert-Schifferer/Julian Kliemann/Valeska von Rosen/Lothar Sickel, Hrsg., Caravaggio e il suo ambiente. Ricerche e interpretazioni, Reihe: Studi della Bibliotheca Hertziana, Verlag Silvana Editoriale, Cinisello Balsamo 2007; Vincenzo Pacelli/Gianluca Forgione, Hrsg., Caravaggio. Le sette opere di Misericordia, Verlag Paparo, Neapel 2014; Mario Dal Bello, Die Bibel des Caravaggio. Bilder aus dem Alten und Neuen Testament, Verlag Schnell & Steiner, Regensburg ²2015; Ralf von Bühren, Die Werke der Barmherzigkeit in der Kunst des 12.-18. Jahrhunderts. Zum Wandel eines Bildmotivs vor dem Hintergrund neuzeitlicher Rhetorikrezeption, Reihe: Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 115, Verlag Georg Olms, Hildesheim-Zürich-New York 1998, 193-210; ders., Im hellen Licht der Barmherzigkeit. Das Altarbild der «Werke der Barmherzigkeit» (1606/07) von Caravaggio zu Neapel, in: O. R., dt., Nr. 52/53, 45 (2015), 25. Dez. 2015, 5.
[4] Vgl. Schütze, Caravaggio 186.
[5] Vgl. Andreas Prater, Licht und Farbe bei Caravaggio. Studien zur Ästhetik und Ikonographie des Helldunkels, Verlag Franz Steiner, Stuttgart 1992.
[6] Vgl. Van Bühren, Die Werke der Barmherzigkeit 196.
[7] Vgl. Valerius Maximus, Factorum et dictorum mirabilium libri IX, De pietate in parentes, cap. V, 4.
[8] Vgl. Van Bühren, Die Werke der Barmherzigkeit 270; ders. Im hellen Licht der Barmherzigkeit 5; Schütze, Caravaggio 192.
[9] Vgl. das Buch Richter 15,15-19 (Simson).
[10] Vgl. Schütze, Caravaggio 129.
[11] Vgl. Van Bühren, Die Werke der Barmherzigkeit 270.
[12] Vgl. Papst Franziskus, Botschaft zum XXXI. Weltjugendtag in Krakau, 15. August 2015, in: O. R., dt., Nr. 23, 10. Juni 2016 (noch nicht erschienen): “Tragt die Flamme der barmherzigen Liebe Christi - von der der hl. Papst Johannes Paul II. gesprochen hat - in das Umfeld eures alltäglichen Lebens und bis an die Grenzen der Erde”.
[13] Vgl. Schütze, Caravaggio192 f.
[14] Vgl. KKK 2447; Franziskus, Verkündigunsbulle Misericordia Vultus des Außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit, 11. April 2015, Vatikanische Verlagsdruckerei, Vatikanstadt 2015, Nr. 15 (= MV); Francesco, Botschaft für den Weltjugendtag 2016.
[15] Vgl. MV 6.
[16] Vgl. Van Büren, Die Werke der Barmherzigkeit 203.